Im Gespräch mit Michele De Lucchi

„1986 habe ich die Tolomeo entworfen. Vielleicht sollte ich sagen, ich habe sie erfunden, denn noch vor der Leuchte entstand die Idee zu einem neuen Mechanismus.“

 


Tolomeo erschien 1987. Der Entwurf von Michele De Lucchi mit Giancarlo Fassina für Artemide wurde sofort zu einem Bestseller und konsolidierte eine Arbeitsbeziehung, die bis heute andauert. Sie ist inspiriert von den traditionellen Leuchten mit Feder wie der berühmten Naska Loris, die Herausforderung war jedoch, eine ikonische, „häusliche“ Form mit innovativen Technologien und Materialien zu vereinen, so dass sie sich verschiedenen Verwendungszwecken und Umgebungen anpassen würde. Heute ist sie ein anerkanntes Symbol für die Moderne und in Wohnungen, Büros, Hotels, auf Zeichentischen von Architekten, in Fotosets und sogar Filmszenen verbreitet. Das erste Modell als Tischleuchte wurde in den folgenden Jahren durch unendliche Varianten ergänzt, wie Tolomeo Micro Gold, die von Pierpaolo Ferrari fotografiert wurde.

 


Gaia Piccarolo: Die Tolomeo gewann 1989 den Compasso d’Oro und wurde schnell zu einer Design-Ikone, deren Mythos unvergänglich scheint. Als sie 1986 entworfen wurde, am Anfang Ihrer Zusammenarbeit mit Artemide, war es frech und wagemutig, es mit der berühmten Naska Loris aufnehmen zu wollen.

 

Michele De Lucchi: Das war es sogar noch mehr, weil man sich bei Artemide mit der Tizio von Sapper auseinandersetzen musste, die wenige Jahre zuvor die Ikonographie der Tischleuchten neu definiert hatte. Die Entscheidung für den Federmechanismus bei der Tolomeo hat einen sehr einfachen Grund, denn ich wollte eine Lampe machen, die mit Glühbirnen und nicht nur mit Halogenleuchten funktionieren würde. Die Tizio hatte kein Kabel, ich dagegen hatte das Problem, ein Kabel unterzubringen; ich wollte es aber ‚unsichtbar‘ in die Leuchte integrieren. Und wenn einmal ein Röhrchen da ist, das ein Kabel verbirgt, kann es auch die Feder aufnehmen, also habe ich einen Mechanismus gesucht, der ganz in dieses Rohr integriert werden könnte. Tatsächlich entstand der Mechanismus bei der Beobachtung von Anglern. Wenn ein Fischer die Angel verwendet, muss er immer die Spitze der Rute halten, so funktionieren zum Beispiel die Trabucchi, die uralten Fischergalgen, die vor allem in Apulien verbreitet sind und bei denen die Stangen, an denen das Netz befestigt ist, wiederum von einer Reihe von Seilen gehalten werden. Es schien mir intelligent, dass man mit einem kleinen Hebelarm und einem Kabel eine Stange aufhängen kann, an der etwas befestigt werden kann. Das war mein Bezugsrahmen, den ich im Kopf hatte, als ich die Tolomeo entwarf.


Gaia Piccarolo: Der Beitrag von Ernesto Gismondi und vor allem von Giancarlo Fassina vom Forschungszentrum Artemide, der das Projekt zusammen mit Ihnen firmiert, war wichtig bei der Ausarbeitung des Produkts. Können Sie uns erzählen, wie und in welcher Zeit sich das Projekt entwickelt hat? Gab es Varianten oder Rückzüge?

 

Michele De Lucchi: Am Anfang, als ich die Tolomeo zeichnete, wollte ich sie eigentlich ganz aus Aluminium machen. Das waren die Jahre von Memphis und ich hatte einerseits die Design-Avantgarde mit allen Farben, Dekoren, dem Laminat und den glänzenden Oberflächen im Kopf, andererseits Artemide mit Ernesto Gismondi, der mir den Auftrag anvertraut hatte, aber auch meine Zusammenarbeit mit Olivetti, die eine seriöse, produktive, technologische Prägung hatte, mit der nicht zu scherzen war. Mir schien, dass die Leuchte, die für Artemide bestimmt war, mehr zur Welt von Olivetti gehören sollte. Also hatte ich einen Prototypen ganz aus Aluminium gemacht, der allerdings nicht gut funktionierte. Das Projekt kam durch dieses Problem für einige Zeit zum Stillstand, bis Giancarlo Fassina einfiel, das Aluminium der Rollen innerhalb des Stahlkabels durch Kunststoff zu ersetzen. Dadurch wurden nicht nur die Geräusche beseitigt, die entstanden, wenn der Stahl auf dem Aluminium rutschte, sondern auch die richtige Reibung zwischen Metall und Plastik und damit eine angenehme, regelmäßige Bewegung ermöglicht.

Die Geburt von Tolomeo ist diesem Kunstgriff zu verdanken, auch wenn die Leuchte damals noch nicht so hieß, denn der Name wurde erst in der Nacht vor ihrer Präsentation beim Salone del Mobile beschlossen. Ernesto erstellte jedes Jahr eine Liste von Namen, und Tolomeo [Ptolemäus] schien uns die richtige Figur für eine Leuchte, denn er war Astronom und Mathematiker, also alles in allem der passendste für die Idee einer wissenschaftlichen Mentalität.

In einer späteren Phase habe ich das Problem der Schirmform und des Mittelgelenks gelöst. Der ‚blumentopfartige‘ Schirm gefiel allen, bereitete jedoch eine Reihe von Problemen. Wegen der konischen Form war, um die Birne horizontal zur Schnittfläche anzuordnen, eine Verdrehung der konischen Oberfläche nötig, und das war sehr schwer zu lösen, dabei kam eine Sache heraus, die schwer zu produzieren und zu formen war. Am Ende beschlossen wir dagegen, dass die Birne in die konische Fläche orthogonal zur konischen Ebene und nicht zur Schnittebene eintreten sollte. Dieses Detail hat mich sehr zum Grübeln gebracht. Oft versteift man sich darauf, Formen zu suchen, ohne die Ziele in Frage zu stellen. In jenem Fall haben wir dann gerade indem wir das Ziel in Frage stellten, eine viel einfachere Lösung gefunden, die auch zwangloser, entspannter ist. Mit dem Mittelgelenk hatte ich ein anderes Problem, denn in der ersten Version konnten die beiden Arme der Leuchte nicht vollständig geklappt werden, und mussten wir sehr größere, komplizierte Verpackungen machen. Im zweiten Produktionsjahr haben wir ein Bein am Hebelarm eingeführt, so dass sich die Arme vollständig schließen lassen. Schon vom ersten Produktionsjahr an hatte die Leuchte einen sehr großen Erfolg, und Artemide beschloss sogar, auch in das Produktionssystem viel zu investieren. Heute arbeitet eine ganze Fabrik nur an der Tolomeo und stellt mehr oder weniger eine halbe Million Exemplare im Jahr her.

 

Gaia Piccarolo: Natürlich muss das Produktionssystem der Tolomeo komplex und flexibel genug sein, um die vielfältige Baureihe an Varianten und Modellen herstellen zu können, die jedes Jahr auf den Markt gebracht werden. Aus der ersten Tischversion ist eine ganze Leuchtenfamilie entstanden, die alle Anforderungen an das „Task Light“ abdeckt, d.h. eine spezifische Leuchte für spezifische Anwendungen.

 

Michele De Lucchi: Ich würde sagen, eher als eine Leuchte ist Tolomeo eine Formel, eine Produktphilosophie. Einer der Vorzüge, der den Erfolg garantiert hat, ist, dass jede Komponente ihrerseits eine unabhängige Leuchte werden kann, z.B. der Kopf allein mit Klemme oder Deckenaufhängung kann zu anderen Leuchten werden.

 


Michele De Lucchi: Ein wichtiger Schritt war sicher, als wir die Schirme wie eine Nachttischlampe aus Papier oder Stoff entwarfen; in dieser Variante wurde das Modell häuslicher und ließ sich verschiedenen Umgebungen anpassen. Generell ist es eine Leuchte mit einer sehr anpassungsfähigen Persönlichkeit, sie kann im Büro, aber auch in der Wohnung verwendet werden, und diese Vielseitigkeit ist einer der Gründe für ihren Erfolg. Sie passt sehr gut sowohl in traditionelle, klassische als auch in innovative, avantgardistische Räume. Sie tritt in verschiedenen Formen auf: als Tischleuchte, Stehleuchte, Decken- oder Wandleuchte. Man kann sie überall hinstellen und leicht umstellen.

 


Gaia Piccarolo: Ohne die Wiedererkennbarkeit ihrer ikonischen Form zu verlieren, hat die Tolomeo auch eine Evolution der technologischen Innovation im Bereich der optischen Lösungen erlebt und die Fortschritte und den Wandel der Lichtquellen mitgemacht. Was waren die wichtigsten Schritte dieser Evolution und was hält die Zukunft bereit?

 

Michele De Lucchi: Das ist ein sehr wichtiges Thema. In den letzten Jahren hat sich die Lichttechnologie radikal verändert, es wurde nicht einfach die Lichtquelle ausgetauscht, sondern die ganze Konzeption der Lichtquelle wandelte sich. Und genau deshalb ist es überraschend und fast ein Wunder, dass die Tolomeo sich diesen Veränderungen anpassen konnte. Der Entwurf war ursprünglich für eine traditionelle Glühbirne bestimmt, aber dann haben wir zahlreiche andere Versionen gemacht: Halogen, Entladungslampen, Energiesparlampen, Leuchtstoff mit langen Röhren usw. Immer wenn Lichtquellen herauskamen, die uns bedeutungsvoll vorkamen, haben wir versucht, den Leuchtenkopf an die neue Quelle anzupassen. Die letzte war sicher die LED-Lampe, die ein sehr konzentriertes, direktes Licht erzeugt, deshalb hatten wir einige Mühe, einen Diffusor zu finden, der das Licht korrekt streut. Die jüngste Evolution der LED-Lampen ermöglicht unter anderem, viele Abstufungen von Weißlicht in seinen verschiedenen Farbtemperaturen zu erhalten. Vor zwanzig Jahren wurde die Lichtfarbe nicht einmal in Betracht gezogen, aber heute ist sie wesentlich geworden. Die Umgebungsqualität steht immer mehr im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit, wir werden uns ihrer Bedeutung immer mehr bewusst, und das Licht ist zusammen mit dem Klang ein wesentliches Element dafür. 

Mit Artemide forschen wir viel an der Möglichkeit, die Licht- und akustische Qualität des Ambientes zu vereinen. Carlotta fragt mich oft, ob ich nicht eine neue Tolomeo entwerfen will, aber heute arbeitet man ganz anders an den Leuchten, mit LED geht man beim Entwurf einer Leuchte nicht mehr von der Glühbirne, sondern vielmehr vom Lichteffekt im Raum aus. Es reicht nicht mehr, eine einzige Birne in der Raummitte anzuordnen, sondern man braucht viele Leuchten, die zusammen eine Einheit von Atmosphäre und Funktionalität darstellen.


Gaia Piccarolo: Die Lichtquellen ändern sich und auch die Art, den beleuchteten Raum zu entwerfen und zu konzipieren, aber die Tolomeo hat als Objekt eben wegen ihrer Form Bestand. Es macht den Eindruck, als ob Technologie und Engineering fast verschwinden zugunsten der extremen Unmittelbarkeit und Schlichtheit des Objekts.

 

Michele De Lucchi: Ich glaube, dass die Leuchte absolut das Objekt ist, das den technologischen Fortschritt am besten mit dem Lebensstil vereint, mit der Vorstellung, die jede Epoche von einem lebenswerten Raum hat. Die Leuchte ist – jedenfalls für mich – das schönste Objekt, das man zeichnen kann, denn sie bringt die Sensibilität für den zeitgenössischen Menschen mit dem Thema des Objekts und seinem symbolischen Wert zusammen. Manchmal vergessen wir, dass Leuchten auch existieren, wenn sie ausgeschaltet sind, aber es ist wichtig, daran zu denken. Wenn wir Objekte entwerfen – Stühle, Leuchten, Becher –, denken wir immer an ihre Funktion, aber wir vergessen ihre symbolische Bedeutung im Raum. Ich habe in diesem Moment sieben unbenutzte Stühle vor mir. Sieben Stühle, auf denen niemand sitzt, die aber für mich Bedeutung durch ihre Präsenz vor mir erlangen. Sie sind nicht nur wichtig, weil sie bequem sind, sondern weil sie Bedeutung innerhalb eines gewissen Raums haben.

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