Virtuose Lippen

Höllisch heiß wäre eine krasse Untertreibung. Die glühende Glasmasse, die in einem klebrigen Ball vor uns liegt, hat die Konsistenz von Honig und ist 1500 Grad heiß. Der rotorange Ball klebt am Ende einer langen Stahlstange, die der Glasbläser in einer hölzernen Form dreht. Dann hebt er die hohle Stange samt Glaskugel an, bläht seine Backen wie ein Jazztrompeter und haucht ihr Leben ein. Mit der Kraft seiner Lungen bläht er die zähe Masse auf, bewegt sie in eine zweiteilige Holzform, die ein genaues Negativ der gewünschten Gestalt darstellt, und bläst sie zur gewünschten Form. Eine schweißtreibende Knochenarbeit, die viel Feingefühl, vor allem aber jahrelange Erfahrung verlangt. Und ein beachtliches Lungenvolumen.

Glas, jene geheimnisvolle Masse aus Quarzsand und Flussmittel, also Sodasche, taucht bereits vor rund 7000 Jahren auf. Eine echte Revolution war aber die Erfindung der Glasmacherpfeife im ersten Jahrhundert vor Christus. Seither konnten Glasmacher Gefäße herstellen, die wie Bergkristall leuchteten. Glashütten entstanden überall dort, wo es reichlich Wald gab (für das Feuer der Öfen), Wasser (zum Schleifen des Kristallglases) und Handwerkskunst, nördlich der Alpen bevorzugt in Thüringen, Böhmen und dem Bayerischen Wald, wo sich die Tradition bis heute gehalten hat, südlich der Alpen war Venedig die Adresse. Die nachweislich älteste Glashütte aber gab es schon im 13. vorchristlichen Jahrhundert in Qantir-Piramesses (Ägypten).

In Italien gilt Murano als Inbegriff vollendeter Glaskunst. Im 13. Jahrhundert siedelte die Serenissima ihre Glaskünstler auf einer eigenen Insel an. Schon damals waren ihre Gläser in ganz Europa berühmt und wurden hoch gehandelt. Einen zweiten Aufschwung erlebten Manufakturen wie Archimede Seguso, Barovier & Toso oder Venini in den Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Ihr Studioglas verband die Handwerkskunst der Glasmacher mit dem Ausdruckswillen internationaler Gestalter: Entwürfe von Paolo Venini, Fulvio Bianconi oder Ercole Barovier erweiterten das Spektrum. Muranoglas umfasste fortan gleichermaßen massive Objekte wie filigrane Stücke von strahlender Farbigkeit.

Für unsere mundgeblasenen Leuchten setzen wir auf traditionelle Handwerkskunst. Unsere Glasbläserei befindet sich in Casuale sul Sile, in der Nähe von Venedig. Hier empfängt eine Fabrikhalle mit zehn Öfen, Pressen und Diamantschneidern. Es ist heiß und stickig. Bis zu 1000 Leuchten werden täglich aus der glühenden Masse geboren. Die Glasbläser arbeiten mit äußerster Konzentration, jeder Griff sitzt. Nachdem die Stücke ihre Form erhalten haben, wandern sie sechs Stunden in einen gigantischen Ofen, der sie langsam auf 100 Grad Celsius herunterkühlt, bevor sie der Ofen ausspuckt und sie zu einer Diamantsäge gelangen, wo Arbeiter die Kanten bearbeiten, bevor sie weiter poliert und geschliffen werden. Am Ende stehen leuchtende Meisterwerke, die 7000 Jahre Kulturgeschichte in sich vereinen.

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